Going beyond reason

Ruhe ist eingekehrt. Ruhe in der meine wirren Gedanken wieder einen Platz gefunden haben. Wo sie nicht überall sind. Hier, dort. Dorthin und dann doch wieder hier. Der März war ein aufregender und turbulenter Monat. Mit unseren sieben Sachen zusammen durch die Rockies zu fahren war wirklich ein außerordentliches Abenteuer. Nun bin ich bereits seit ein paar Wochen wieder alleine unterwegs und es fiel mir schwer mich zu Beginn daran zu gewöhnen. Genau betrachtet war ich eigentlich zu den wenigsten Momenten meiner Reise alleine unterwegs. Die drei Monate in Whitehorse bei der liebenswerten Familie und der Februar mit dort gewonnen Freunden in Dawson. Dazwischen bin ich oft mit anderen gereist und immer nur für eine winzige Teilstrecke der Gesamtreise. Natürlich darf ich auch Caverhill dabei nicht vergessen. Denn auch wenn physisch keine Fortbewegung stattfindet, so reist man immer ein Stück gemeinsam durch das Leben in Gesellschaft mit anderen Menschen. Am 11. April verließ ich Victoria und machte mich auf den Weg zu einer kleineren Insel neben der großen Insel. Einen Tag zuvor hatte ich ein Telefongespräch mit einem Host, auf der Insel Quadra lebend. Wir sprachen über mögliche Aufgaben für mich und nachdem ich, noch einmal, klarstellte, dass ich handwerklich wenig Erfahrung mitbringen würde, vereinbarten wir es einfach zu versuchen. Nun bin ich bereits seit zwei Wochen an einem sehr schönen Fleck der Insel und nicht nur auf der Suche nach den richtigen Schrauben, sondern insbesondere nach mir selbst und Antworten auf meine unzähligen Fragen. Mal wieder. Immer noch.

“Expand your limited view of your current perception”

Der Weg abgeschieden. Asphalt schon gar nicht. Regenwald direkt um mich herum. Halb auf die Straße, halb aufs Handy blickend versuche ich den Weg zu finden. „Am Ende der Straße.“ Die Angabe zum Wohnort. Quadra selbst ist nicht sehr groß, aber ich habe vergessen mir bei dem Fährübergang eine Karte zu besorgen. Die Situation sich auf dem falschen Wege zu befinden daher durchaus im Rahmen der vielfältigen Möglichkeiten. Ich halte also den Wagen am Ende der Straße und steige aus. Ein kleiner Weg geht einen geringen Abhang herunter. Allerhand Altlasten liegen umher. Reifen, Metall jeglicher Art und Form, sowie Autos. Wirr beim ersten Blick, durchdacht mit System beim zweiten. Das Haus schaut unfertig aus. Papier hängt noch an den Wänden und keine wirkliche Eingangstür lässt mich hineinschauen. Ein Shop. Werkzeuge wohin das Auge reicht. Meine Ohren vernehmen Geräusche von Innen und ich wage es zu klopfen. Keine Reaktion. Ich unternehme einen weiteren Versuch. Doch noch immer rührt sich nichts. Unschlüssig Mut aufzubringen um hineinzugehen greife ich zum Handy und rufe Jim an. „So you made it? Turn off you phone then and let´s talk in person!” Strahlend macht er mir die Tür auf und bittet mich herein. Der Ersteindruck bestätigt sich und sich sehe noch Unmengen mehr an Werkzeugen und Maschinen. Wir gehen ins Wohnzimmer/in die Küche. Ein beeindruckender Blick auf die „Discory Passage“ und Campbell River liegt direkt vor mir. Wow! Wir kommen ins Gespräch. Smalltalk. Wie war die Fahrt? Wo warst du bisher? Reisen. Schnell geraten wir in ein philosophisches Thema. Er zeigt mir einer seiner Skulpturen und erzählt mir seine Geschichte dazu. Ein Stück Treibholz. Doch er wollte es nicht mit dem Kopf bearbeiten. Sondern auf seine Stimme, sein Herz, sein Inneres hören. Herausgekommen ist ein Geflecht aus Meerestieren und einem Kanu. „Today´s society is so clever. Everything works with your brain. Everything works with reason. But the world would be so much better if we would listen inside. What our heart is telling us.” Er nennt die Skulptur “Transformatiion.” Warum das Doppel-“i” frage ich ihn. „I am an artist.“ Aber natürlich ist das nicht alles. Im Wort steckt ein Dopplel-i, richtig? In Englisch klingt das „i“ wie „eye“. Warum haben wir zwei Augen? Genau, für den dreidimensionalen Seheffekt. Lauter solcher kleinen Wortspiele setzen sich über die Tage hinfort. „Impossible“ zum Beispiel. Versteckt, aber dennoch sichtbar verbirgt sich „I m possible“ – „I am possible“ dahinter. Etwas, dass für dasselbe Wort in Deutsch nicht gilt. Aber ich bin beeindruckt. Die Holzskulptur ist auch in Bronze vorliegend und er arbeitet gerade daran einen Zementboden als Grundstütze zu nutzen. Natürlich mit dem Wort „Reason“ darauf. „Society is based on reason.“

The blue dot

Ich habe mittlerweile unzählige Dinge gemacht während meines Aufenthaltes hier. So viel, dass ich die Hälfte sicher wieder vergessen habe. Mehr und mehr bekomme ich den Eindruck, dass Jim mir mehr hilft als ich ihm. Oft stelle ich mich einfach dämlich an. Und ich bin unglaublich ungeduldig mit mir selbst. Beispiel: Da ist dieser Schrank. Ehemals als Dachbox für das Auto genutzt soll er nun als Bademantel Schrank neben dem selbstgebauten Whirlpool stehen. Ich habe ihn von außen angeraut und von innen nach außen neu gestrichen. Verstärkt habe ich den Boden und die Bodenplatten generell angebracht. Das alleine war für mich Mann mit drei linken Händen und fünf kleinen Fingern ein Akt der Arbeit. Nun geht es also darum, dass ich auf zwei kleinen Holzplatten Haken für die Bademäntel anbringe. Gesagt getan und schon freudig dabei die zweite Platte anzusetzen, um sie mit dem Akkubohrer an den Schrank zu nageln, kommt Jim um die Ecke. Zuvor hatten wir bereits das Gespräch über die 2-3 %, die den Unterschied machen bei der Ausarbeitung einer Sache. Er schaut sich meine verwenden Schrauben am Haken an. Sie stehen vor, sprich es ist durchaus möglich, dass sich der Bademantel verhakt. Neu machen. Ich entschraube also die Platte, hole sie mit einem schweren Eisen heraus (da wirklich passgenau). Ich zerkratze dabei die Innenseite. Farbe splitter ab. Mich nervt es. Jim kommt nochmal zurück. „It is not about the screws.“ Er erklärt mir wie klein die Welt ist (the blue dot in our solarsystem) und das es eigentlich verdammt egal ist. Das Universum ist so verdammt groß , wen kümmern dann die Schrauben in einem kleinen Schrank. Wir geben den Dingen ihre Bedeutung. Wir entscheiden wie wir darüber denken, wie wir handeln und wann uns etwas wichtig erscheint oder nicht. Dennoch bleibt der fade Beigeschmack, dass ich handwerklich einfach nichts auf dem Kasten habe. Oh, und nebenbei wollte er mir damit natürlich auch sagen, dass es unterschiedlich Nägelköpfe gibt.

Jim

Jim ist ein allseits gut gelaunter Mensch. Er hegt keinen Groll und wird nie wütend, ungeduldig oder ausfallend. Lachen ist bei ihm mehr als nur der Ausdruck der Freude, es ist eine Eigenschaft. Positiv zu jeder Zeit und hochmotiviert. Er hat annähernd 100 Projekte gleichzeitig am Laufen und Langweilig wird einem um Jim herum zu keiner Sekunde. Neben der reinen Berufung ein Künstler zu sein, hat er das Fach Überlebenskünstler mehr als nur gemeistert. Gute 90 % seines Besitzes wurde ihm geschenkt. Darunter auch ein Segelboot. Er glaubt fest daran, dass Energien sich anziehen und alles seinen Weg geht, wie es soll. Sein Leben zeugt auch von Niederschlägen, die ihn aber offensichtlich nur weiter motiviert haben, diesen einst eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Hinzu kommt seine überaus hilfsbereite und hingebungsvolle Art und sein unglaubliches handwerkliches Verständnis und Können. Letztens lacht er und sagt: „Ich wollte nie Spezialist in irgendwas werden. Nun bin ich Spezialist im Allrounder sein.“ Das ich hier bin unterliegt meiner Meinung nach keinem Zufall. Auch wenn ich viele der angesprochenen Themen bereits selbst für mich entdeckt habe, stoße ich doch oft auf neue Dinge und kleine Denkanstöße. Von sich selbst behauptet Jim, dass er gar nicht so gut in den Dingen ist, die er tut. Ehrliche Bescheidenheit, für die es aber keine Grundlage gibt. Mit seinen 65 Jahren, seinem Lebensstil und seiner Lebenseinstellung ist er für mich mehr als nur überdurchschnittlicher Host oder Mensch: Er ist ein Vorbild welches seinesgleichen sucht. „It is not about knowing what to do exactly. It is about your attitude to approach a situation.” Einer seiner vielen kleinen Weisheiten.

Projekte, Projekte, Projekte

Er zeigt mir die Ventile des Motorblocks seines Mazdas. Der Zahnriemen muss ausgetauscht werden. Zahlreiche Teile liegen herum. Jim erzählt mir, dass er so etwas zuvor noch nie gemacht hat. Mit seiner Intuition und dem Internet arbeitet er sich vor. Wie zu all seinen Dingen sagt er, dass er auch Geld dafür bezahlen könnte, doch er nutzt lieber die Chance um noch etwas zu lernen. Eine bemerkenswerte Einstellung, die sich nicht viele leisten können, da manche Dinge keinen Aufschub dulden (wie zum Beispiel ein funktionierendes Auto). Ein alter drei Pferde starker Außenbordmotor steht direkt vor mir. „Den wirst du wieder zum Laufen bringen.“ Ich taste mich heran, schraube den Benzintank ab und sehe den Mechanismus, der die Zündkerzen zur Arbeit zu bringen. Viele solcher Kleinigkeiten lassen mich meine Angst davor verlieren, an solche Dinge heran zu treten. Mein Gefühl darin nicht gut zu sein bleibt allerdings. „Fehler machen ist wichtig! Wer keine begeht, macht etwas falsch.“ Der Motor steht noch immer offen und läuft nicht. Andere Projekte kamen dazwischen und ich bin etwas unbegeistert von dem Außenbordmotor. „Was begeistert dich denn dann?“ Die Diskussion geht weiter. Und sie wird noch sicher öfters vorkommen. In der Zwischenzeit habe ich ihm dabei geholfen seine beiden Segelschiffe zu säubern, habe Ziegenmist in den Truck und wieder zurück in seinen Garten geschaufelt, eine seiner Seile zusammen mit ihm aus dem Wasser gefischt (er hat eines seiner anderen Boote verkauft) und gereinigt, habe ein großen Metalrohr auseinandergeschnitten (auf dem ich hinten auf dem Truck zuvor gesessen und gestanden habe aus Transportgründen) und vieles mehr. Immer mit einem Lächeln und einem flotten Spruch lässt es sich sehr leicht mit Jim arbeiten. Ob man das von Christian behaupten kann weiß ich nicht immer so richtig. Es ist jedenfalls schön zu hören, dass sie mich für mein Alter sehr weise halten („…compared to that you are old.“). All diese philosophischen Dinge mit 26 entdeckt zu haben ist eher eine Seltenheit. Ob das stimmt?

Quadra Island

Viel bin ich bisher nicht herum gekommen. Zusammen mit einem Freund und Hobbyarchäologen sind wir mitten (!) durch den Wald marschiert und teilweise auf Trails entlang gelaufen. Unser Ziel: Zwei Buchten. Auf der Suche nach Werkzeugen von vor 12.000 Jahren suchten wir den Strand ab. Paul erklärt, dass er gerade gestern an einer anderen Stelle 50 eindeutige Artefakte gefunden hat. Nach ein paar Funden meinerseits habe ich es aufgegeben, denn für mich sah doch vieles einfach gleich aus. Ich genoss den gut vier Stunden langen Hike, auch wenn ich mich des Öfteren umdrehte, da die Stories über Cougare mich nicht gerade erheiterten. Wirkliche Angst hatte ich jedenfalls nicht. Es war schön abseits der Wege zu laufen und ich habe Einsicht in die Leidenschaft der Archäologie bekommen. Einen wirklich guten Fund hatten wir leider nicht, dafür viel Spaß und Bewegung. Einen anderen Tag ging es für mich nach Rebecca Spit. Eine kleine Inselzunge. Wunderschön gelegen und einfach traumhaft. Ich verbringe dort ein paar Stunden und besuche die Tochter von Maria, der Lebenspartnerin von Jim. Maria ist sogar vor Ort, wird aber kurze Zeit später von Jim abgeholt, da ein Freund von Jim beim Segeln den Propeller des Motor verloren hat. Übrigens das Boot, auf dem ich mit Jim hätte sein können, da der Freund von Jim dies angeboten hat. Die spektakuläre Rettungsmission habe ich leider nicht live erlebt, doch die Story an sich ist wieder einmal „typisch Jim.“ Ich hatte dafür eine schöne Begegnung mit sechs Kanadierinnen aus Victoria. Natürlich tat ich das, was ich immer tue. Ich erzähle von meiner Reise und gebe meinen Ansichten zur Welt. Zum Schluss gibt mir eine ihre Hand und bedankt sich, da ich sie motivieren konnte noch einmal ernsthaft darüber nachzudenken ihren Traum wahrzumachen und ebenfalls so zu reisen. Puh, vielleicht sollte ich doch Geld dafür nehmen?

Ausblick

Wie lange ich hier bleibe weiß ich nicht. Wir haben nicht darüber gesprochen und es scheint kein Thema generell zu sein. Das selbstgebaute Haus ist riesig und diente früher sogar einmal als Hostel. Ich helfe so gut es geht, was mir nicht immer leicht fällt. Teilweise ist es ziemlich hart für mich motiviert zu bleiben, aber wie soll ich je mein Verhalten mir gegenüber ändern, ohne durch das Tal der Tränen gegangen zu sein? Vermutlich werde ich nie so bewandert sein wie Jim, doch vielleicht schaffe ich es ein paar seiner Weisheiten in mein Repertoire aufzunehmen, sodass mir der Umgang damit zumindest leichter fällt. Den ersten Teil der Story für die Kids habe ich fertig geschrieben. Nun geht es gerade an die Überarbeitung und später an die Verbesserung meines Englisch. Jim zeigt sich überaus interessiert an meinem Faible fürs Schreiben und findet es großartig. Es gibt noch ein paar Dinge, die auch der kleinen, aber feinen Insel sehen kann und Jim bat mir seine Hilfe mit dem Auto an. Ich werde also tatsächlich selber Öl wechseln. Gemeinsam wollen wir das Auto digital auswerten und uns den Zahnriemen anschauen. Das könnte eine spannende Sache werden, wenn auch das Problem mit dem Getriebe nach wie vor vorhanden ist, und es mitunter vielleicht gar nicht das Getriebe-Öl ist. Es gibt viel zu tun! Hinsichtlich meiner Unschlüssigkeit zu den nächsten Schritten kann ich so viel sagen: Es wird nicht Südamerika. Das wir ein anderes großes Projekt zu einer anderen Zeit. Ich werde in Kanada bleiben, vielleicht mit Abstecher in die USA. Vermutlich werde ich in den Osten fahren und von dort auch wieder die Heimreise antreten. Doch wie es mit allen Plänen bisher gelaufen ist: Das Leben spielt oft anders und ich bin gespannt, wo es mich hintreibt. Alles was ich dafür tun muss ist auf mein Herz zu hören. Und „Reason“ doch nicht ganz vergessen. Denn wie Jim es gerne sagt muss alles auch in einer Balance sein.

 

Euer Christian

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„Jim, it smells toxic. Do you have a mask?“ „Sure, I do!“

 

Da ich momentan kein W-Lan habe müssen die Bilder leider auf sich warten.

PS: Ha, die erste Ratte ist dem Ratinator zum Opfer gefallen. Eine elektrische Falle, die schon seit ein paar Tagen unten steht, damit sich die Ratte an die Existenz gewöhnt.

PPS: Das geilste Popcorn überhaupt esse ich hier. Soooo verdammt lecker!!

Ein Gedanke zu „Going beyond reason“

  1. Dieser Jim klingt sehr sympatisch =) ich wette er ist zufrieden mit dir und freut sich darüber das du lernwillig bist 😛
    Ich bin gespannt wie die Geschichte deiner Helden endet und ob du vllt ein Buch schreibst wenn du zurück bist 😛

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